Cover
Title
The Talk of the Town. Information and Community in Sixteenth-Century Switzerland


Author(s)
Roth, Carla
Series
The Past and Present Book Series
Published
Extent
208 S.
Price
£ 75.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Isabelle Schürch, Historisches Institut, Universität Bern

Anna Bösch arbeitete in den 1530er-Jahren als Hebamme in allen möglichen Haushalten in St. Gallen, einer kleinen Ostschweizer Textilgewerbestadt. Sie wusste um die Misshandlungen, die die Ehefrau von Heinrich Locher selbst im Kindbett erdulden musste. Sie wusste zudem, dass Anna Kessler ihren Mann vielleicht deswegen geheiratet hatte, um Gerüchte über eine inzestuöse Affäre zum Schweigen zu bringen. Und Anna Bösch wusste auch, welche Leintuchhändler ihre Rechnungen bezahlt hatten und welche nicht. Die Historikerin staunt weniger über die Abgründe ehelicher Beziehungskisten in einer vormodernen Kleinstadt, als vielmehr über die Tatsache, dass wir von Anna Bösch und ihrer Stimme im Stadtgespräch überhaupt wissen. Grund dafür ist eine Sammlung von Nachrichten, Berichten, Gerüchten und Gemunkel, die der St. Galler Johannes Rütiner (1501–1556) zwischen 1529 und 1539 in zwei Büchern akribisch und – wohl als Vorsichtsmaßnahme – auf Latein übersetzt niedergeschrieben hat. Das Außergewöhnliche dieser Commentationes hat die Forschung zwar schon länger erkannt, aber es ist das große Verdienst von Carla Roth, dass sie für ihre Dissertation dieses Konvolut von Klatsch und Tratsch systematisch erschlossen hat. Ihre 2016 an der Universität Oxford eingereichte Studie verfällt weder der Süffisanz der Gerüchteküche noch einer akademischen Überheblichkeit angesichts der teilweise recht derben Anekdoten. Roth hat es geschafft, dem schwer zu fassenden Stimmengewirr in den rund 2.000 Einträgen Rütiners und seiner 349 Informant:innen eine kluge und feinfühlige Struktur zu geben, die die Reichhaltigkeit dieses Dokuments nicht einengt und der kommunikativen Verfasstheit dieser städtischen Gemeinschaft das Hauptaugenmerk schenkt.

Das Anliegen Roths ist es, anhand des St. Galler Falls einen frühneuzeitlichen, von den Reformationsereignissen geprägten „Kommunikationskosmos“ sichtbar zu machen, der einerseits untrennbar mit den sozialen Dynamiken einer Kommunikation unter Anwesenden verwoben war und der andererseits zwar vom neuen Medium Buchdruck geprägt, aber eben gerade nicht verdrängt worden war (S. 3). Damit geht Carla Roth über den eigentlichen Fall Rütiner hinaus und sie verschränkt medien- respektive informationsgeschichtliche Konzepte mit sozial- und (zumindest ansatzweise) genderhistorischen Perspektiven. Es ist diese angestrebte Verschränkung von „Informationsbeschaffung“ und „Vergemeinschaftung“ – um die beiden titelgebenden statischen Begriffe „Information“ und „Community“ prozesshaft zu reformulieren –, die den Reiz dieser Studie ausmachen. Die Commentationes sollen nicht lediglich das Fenster zu einer Alltagsgeschichte der St. Galler Einwohner:innenschaft aufstoßen, sondern in ihrer Eigenlogik als verschriftlichte und durch Rütiner ausgewählte und gefilterte Wahrnehmungsform städtischer Informiertheit untersucht werden. Dafür führt Roth in direkter Anlehnung an Pierre Bourdieus Kapitalsorten auf analytischer Ebene den Begriff des „kommunikativen Kapitals“ ein (S. 12). Damit bezeichnet sie das Potential einer Person, in sozialen Settings kommunikativ wirksam in Erscheinung zu treten. Zugang zu Informationen konnte zwar gesellschaftlich begrenzt werden, rhetorische und soziale Kompetenzen – etwa beim Vortragen eines Witzes – waren hingegen nur bedingt bildungs- oder statusnormiert. Kommunikatives Kapital konnte also, so die These des Buches, einen Mangel an sozialem und kulturellem Kapital durchaus ausgleichen. So wohl auch im Falle von Anna Bösch, die als Hebamme Zutritt zu Patrizierhaushalten hatte und Gehörtes in Gesprächen mit Johannes Rütiner, der als Basler Studierter selber einen mehr oder weniger erfolgreichen cursus honorum durch die St. Galler Ämter durchlief, weitergab. Die frühneuzeitliche Stadt erscheint hier als ein soziales Gebilde, in dem nicht nur gehandelt, produziert, gebetet, gelebt, geheiratet und gestorben, sondern vor allem auch geredet wurde.

In einem ersten Kapitel geht es Roth darum, die Commentationes zu kontextualisieren und zwar sowohl im Hinblick auf die historischen Umstände einer gewerblich geprägten Kleinstadt im Zuge der Reformation als auch auf die zeitgenössischen Aufschreibepraktiken, denn Rütiners gelehrte St. Galler Zeitgenossen kommentierten diese „wunderlichen Zeiten“ in zahlreichen Chroniken und Diarien. In Kapitel 2 schlüsselt Roth die Akteur:innen des „talk of the town“ auf. So kann sie herausarbeiten, dass sich Rütiner auf unterschiedliche Netzwerke von Informant:innen stützte, die nahezu das ganze gesellschaftliche Spektrum des frühneuzeitlichen St. Gallens und seiner Umgebung abdeckten. Auch wenn die Netzwerkanalyse in diesem Kapitel eher rudimentär angelegt ist, kann Roth doch klare Tendenzen aufzeigen: Rütiner bezieht seine Informationen für die Commentationes vor allem von Personen, nicht aus Briefen, Zeitungen oder Flugblättern. Die 349 erwähnten Informant:innen kann Roth in vier soziale Großgruppen einteilen, wobei sich zwei voneinander getrennte Sozialsphären ausmachen lassen (S. 46). Einerseits partizipiert Rütiner am St. Galler Humanistenkreis um Vadianus, andererseits parliert Rütiner für seinen Informationszugang vor allem mit Mitgliedern der Weberzunft, seinen Nachbar:innen und seinen Familienangehörigen. Rund 80 Personen kann Roth als regelmäßige Informant:innen identifizieren, die den Großteil der Informationshappen für Rütiner bereitstellten.

Den Hauptteil der Arbeit machen jedoch die Kapitel 3 bis 6 aus. In diesen verfolgt die Autorin einen auf die Kommunikationssorte hin angelegten Zugriff auf das Stimmenwirrwarr. So wird in Kapitel 3 die soziale Funktion von obszönem Humor untersucht. Denn, so eine Einsicht aus der Zusammenschau der Commentationes, schlüpfrige Witze finden sich in fast allen sozialen Kontexten und konstituierten Soziabilität in beträchtlichem Masse. Wöchnerinnen witzelten ebenso derb wie Pfarrer oder der bekannte St. Galler Humanist und spätere Bürgermeister Vadianus. Kapitel 4 beschäftigt sich mit dem in den letzten Jahrzehnten breit erforschten Sozialphänomen „Gossip“. Neben der Fallstudie zur Hebamme Anna Blösch behandelt Roth hier die Frage nach der genderspezifischen Zuschreibungsform von Klatsch und Tratsch. Hier kann Roth zeigen, dass die Commentationes eine Breitensicht zulassen, die in der Forschung so kaum bekannt ist. Der einseitigen Forschungsaufmerksamkeit auf weiblichen „gossip“ kann sie entgegenhalten, dass Rütiners Zeitgenoss:innen jenseits von Genderrollen tratschten. Viel entscheidender war der Wert von sozialem Wissen. „Gossip“ lässt sich, so Roth, zwar durchaus als soziale Praxis verstehen, die Commentationes zeigen jedoch auch, dass spezifisches lokales Wissen inhaltlich gefragt war und Menschen wie die Hebamme Anna Blösch es verstanden, sich mit „Interna“ und ihrem kommunikativen Kapital Gehör zu verschaffen. Was die Niederschriften Rütiners nicht zulassen und Roth auch nicht explizit problematisiert, ist die Frage, welchen Umlaufwert Böschs kommunikatives Kapital hatte: Wie exklusiv verteilte Blösch die „Gossiphappen“, die Rütiner allenfalls in der Zunftstube auftischen konnte?

In Kapitel 5 diskutiert Roth schließlich Gerüchte und ihre schillernde vormoderne Begrifflichkeit als fama. Gerade weil Rütiner seine Einträge kaum geordnet oder sprachlich normiert hat, nimmt Roth seine Redundanztendenzen zum Anlass, die transformative Kraft von vagen Gerüchten zu gefestigten News nachzuzeichnen. Obwohl sich Roth hier dem in der Forschung etablierten Ausdruck des „marketplace of news“ (S. 111, 129) bedient, betont sie eine akteurszentrierte Perspektive auf den Umgang mit Gerüchten. Gerüchte und ihre Erzähler:innen konnten ihre Geschichten passgenau zuschneiden. Das war ihr Vorteil. Die frühneuzeitliche Anwesenheitsgesellschaft blieb also ihrer Bevorzugung von mündlichen Berichten gegenüber schriftlichen Distanzmedien durchaus treu – wenn Vertrauen in die Person vorhanden war.

Das letzte Kapitel untersucht, wie sich mündlich erzählte Geschichten in der Weitergabe auch weiterentwickelten. Anhand des St. Galler Auflaufs von 1491 zeigt Roth, wie dieser rund 40 Jahre später verhandelt wurde. Einmal mehr kann die Autorin darauf hinweisen, dass die Inkonsistenzen in den Commentationes nicht ein Ärgernis für ordnungsbedachte Historiker:innen sein sollten, sondern ein Freudenfest. Denn erst anhand dieser „Fehler“ lassen sich Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte der frühneuzeitlichen St. Galler Gesprächscommunity überhaupt erkennen. So können etwa Namen und Daten abgeändert werden, während Orte als stabilere Orientierungspunkte in den Geschichten konstant bleiben. In dem kurzen Fazit, welches das Buch beschließt, schlägt Roth den Bogen zu den „wunderlichen Zeiten“ der Reformationsereignisse, die mit dem Ende der Commentationes 1539 auch in der Wahrnehmung ihrer Kommentatoren eine andere Färbung erhielten. Nicht nur Rütiner sah mit Sorge der unsicheren Zukunft entgegen und fürchtete dräuende Kriegszeiten. So vollmundig wie die Commentationes zunächst einsteigen, so lautlos enden sie 1539 auch wieder. Unklar bleibt auch für Roth, zu welchem Zweck und mit welchen Motiven Rütiner alles irgendwie Erfahrbare über seine Zeitgenoss:innen festhalten wollte, aber „he may have hoped that owning a treasure chest full of past conversations would provide him with plenty of communicative currency to spend on conversations in the present, and win him the appreciation and attention of his fellow St Gallers“ (S. 163). Damit bleibt die Frage offen, ob sich Rütiner der Verfasstheit seiner Stadt eben gerade nicht wie andere über ihre Geschichte näherte, sondern sie als Gewebe sozialer Interaktionen, die (un)gleichzeitig und nebeneinander stattfaden, sichtbar machte. Die lateinische Übersetzung verweist zumindest auf eine grundsätzlichere Bearbeitung des Gesprächsstoffes als es das Sammeln des Nähkästchen-Geplauders allein nahelegen würde.

Mit „The Talk of the Town“ ist es Carla Roth gelungen, das Sammelsurium von Rütiners Bucheinträgen einer sehr lesenswerten Untersuchung zu unterziehen, die sich nicht von derben Sprüchen verführen oder falschen Informationen beirren lässt. Indem die Autorin die Eigenlogiken der Commentationes ernstgenommen hat, konnte sie herausstreichen, wie der Zugang zu Informationen und ihre mediale Verfasstheit nicht ohne die Verfasstheit ihrer gesellschaftlichen Bedingungen verstanden werden kann. Die „Vergesellschaftung unter Anwesenden“1 scheint hier fast zum Greifen nah. Besonders hervorzuheben sind die beeindruckenden narrativen Fertigkeiten der Autorin. Im Einleitungsteil, so ein kleines Manko der Arbeit, wäre eine differenzierte Diskussion der Forschungsansätze zu „information“ und „community“ wünschenswert gewesen, vor allem auch in ihren Wechselwirkungen. So reduzieren die Ausführungen zum Forschungsstand die umfangreichen Forschungsfelder der Mündlichkeit und Schriftlichkeit, der historischen Medialitätsforschung sowie der Kommunikations- und Informationsgeschichte etwas sprunghaft auf jeweils einen kurzen Absatz. Die Entscheidung, die Arbeit in sechs voneinander nahezu unabhängigen Kapiteln mit übersichtlichem Umfang von jeweils circa 20 Seiten zu unterteilen, zeugt von der großen Leistung Carla Roths, das überbordende Material im Griff zu haben. Die Kapitel werden meist mit einem Quellenauszug eingeleitet, der in der Folge luzid mit den jeweiligen Forschungsthesen, vor allem aus der englischsprachigen Frühneuzeitforschung, diskutiert und eingeordnet wird. Auf diese Weise gelingt es Roth, die die vermeintliche Einzigartigkeit dieses Dokuments immer wieder zu reflektieren.

Die Lektüre dieses narrativ durchdachten Bands wirkt nur an ganz wenigen Stellen irritierend. Gleich mehrfach wird etwa betont, wie schlecht Rütiners Latein war (etwa S. 25, 32, 50). Rütiner mag vielleicht nicht den umfangreichsten lateinischen Wortschatz gehabt haben, doch lässt sich Roths Urteil über seine Sprachkompetenzen anhand der englischen Übersetzungen im Fließtext und den lateinischen Belegstellen in den Fußnoten nur bedingt nachvollziehen. Dies fällt aber gerade deswegen auf, weil die Autorin ansonsten sehr umsichtig mit ihrem Material umgeht. Allerdings hätte der sprachlichen Überformung der verschiedenen Commentationes durch die Feder Rütiners durchaus mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden dürfen, da die semantischen Ausdrucksentscheidungen allenfalls Muster, Angleichungen und Wertungen Rütiners hätten anzeigen und weitere Einsichten in den Umgang mit der kommunikativen Währung hätten offenlegen können. Wer nicht eine traditionelle Stadtgeschichte, sondern eine kompetente Führerin durch einen frühneuzeitlichen kleinstädtischen Mikrokosmos von Klatsch und Tratsch sucht, die auf die Leben und kommunikativen Handlungsspielräume von Akteur:innen jenseits von Regiment, Zunft und Humanistenkreisen aufmerksam macht, ist bei Carla Roth in besten Händen.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu Rudolf Schlögl, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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